Statement vom Colos-Saal in Aschaffenburg zur aktuellen Lage im Veranstaltungsbereich
Verfasst: Mo 25. Mai 2020, 08:48
Claus Berninger vom Colos-Saal zur aktuellen Situation!
„So geht`s nicht weiter! Colos-Saal pausiert bis Ende August!
Nach 70 Tagen Lockdown, vom Virus und der Politik erzwungenen, hat der Colos-Saal nun die Nase voll und entscheidet selbst: Der Club bleibt bis zum 31.8.2020 definitiv geschlossen. Alle geplanten Konzerte für Frühjahr und Sommer sind verschoben oder komplett abgesagt. 56 Veranstaltungen sind bislang ausgefallen. Etwa 50 weitere waren im Sommer bis Ende August noch geplant. Wir haben aber nach wie vor keine Rechtssicherheit bezüglich der Frage, wann wir denn die Arbeit wieder aufnehmen können und werden sie auch in absehbarer Zeit nicht erhalten. Daher steigen wir vorerst aus, machen eine Pause und warten die weitere Entwicklung ab.
Aber gestattet uns einen (langen) Kommentar zu dieser Situation:
Es macht einfach keinen Sinn mehr, alle 14 Tage auf die nächste Pressekonferenz in Berlin oder München zu warten, in der unerfüllten Hoffnung auf eine maßgebliche Ansage, wie es denn in der Konzertbranche weiter gehen soll, denn am Tag danach konnten wir jedes Mal wieder die nächsten zwei Wochen des Programms absagen. Es gibt für die Clubs keinen wirklichen Plan der Politik, die weiterhin nur auf Sicht fährt und sich über Lockerungen ziemlich uneinig ist.
Wie simpel wäre das Leben, wenn man ein aluhuttragender Coronaleugner wäre? Man könnte heftig auf „die da oben“ eindreschen, scharf gegen alle Einschränkungen des öffentlichen Lebens protestieren, gegen das Herunterfahren der Wirtschaft auf die Straße gehen und richtig Dampf ablassen, dabei jede Menge Schuldige anklagen. Aber so einfach ist das ja alles nicht. Das Virus ist nicht verschwunden, sondern bleibt gefährlich. Kein Wunder, dass Kanzleramt und die Ministerpräsidenten herumeiern und –irren. Keine/r will die Verantwortung für ein weiteres Ischgl tragen.
Einzelne Bundesländer signalisieren sogenannte Lockerungen für die Kultur. In Hessen können seit dem 9. Mai Theater, Opern- und Konzerthäuser wieder öffnen, ab 30. Mai auch die Kinos. In Mecklenburg-Vorpommern sind seit 11. Mai Galerien, Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten wieder zugänglich. In Rheinland-Pfalz dürfen ab Ende Juni Veranstaltungen mit bis zu 150 Personen stattfinden - selbstverständlich alles unter dem Vorbehalt von Hygienemaßnahmen, Erfassung der Teilnehmer und Einhaltung der Abstandsregeln. Der thüringische Ministerpräsident will sogar ab 6. Juni sämtliche Coronabeschränkungen aufheben. Bayern blockt dafür komplett, öffnet vorerst nur Biergärten und Gaststätten. Welch ein heilloses Durcheinander!
In der Welt der geförderten Kultur, in den Museen, Theatern und Opernhäusern wird tatsächlich ernsthaft darüber nachgedacht, den Betrieb unter Beachtung aller Einschränkungen wieder aufzunehmen und dabei die meisten Plätze freizulassen, um die Abstandsregeln hinzukriegen. In der privatwirtschaftlich organisierten Kulturwelt aber, zu der der Colos-Saal und hunderte andere Live-Music-Clubs, aber auch etliche Kabarett- und Kleinkunstbühnen gehören, wäre das finanzieller Selbstmord, ganz abgesehen von der Frage, wovon die zigtausend Künstler und Veranstaltungstechniker überhaupt noch leben könnten, die auf die Spielstätten als temporäre Arbeitsplätze angewiesen sind, wenn es aus Live-Veranstaltungen nichts mehr zu verteilen gäbe. Immerhin ist gerade den Musikern der Tonträgermarkt durch Streaming Dienste bereits vor Jahren zusammengebrochen, was nur durch Tourneen und mehr Konzerte kompensierbar war.
Aber viel wichtiger noch ist die Frage: Geht das überhaupt? Rock und Pop unter Hygienemaßnahmen, mit Mundschutz und Abstandsregeln? Wer kann sich diesen Cultural Clash denn ernsthaft vorstellen? Diese beiden Genres verbinden die Menschen und führen zu emotionalen Gemeinschaftserlebnissen. Wir kommen zusammen, um Musik sinnlich zu erleben, wir bewegen uns, tanzen, rocken ab. Wir feiern die Musik und die Künstler gemeinsam, wir reagieren mit unseren Körpern auf Lautstärke und Dynamik, im besten Fall werden wir im Publikum für ein paar Stunden zu einer einzigen Woge der Gemeinschaft. Wir treffen uns mit Freunden und Gleichgesinnten auf den Konzerten, gehen gemeinsam aus, wollen Menschen kennenlernen. Wir bringen Menschen zusammen und gerade die Live-Clubs (aber auch die Diskotheken und Bars) existieren überwiegend genau zum gegenteiligen Zweck, nämlich eigentlich um die derzeit propagierte Social Distance zu überwinden.
Körperliche Nähe von Menschen und durchfeierte Nächte sind ja nicht nur Begleiterscheinung, sondern eigentlich Quintessenz des popkulturellen Nachtlebens. In einem gemeinsamen offenen Brief formulieren die Betreiber von über 30 Musikclubs in Deutschland es folgendermaßen: Clubs seien "kollaborativ gestaltete Räume konkreter Körperlichkeit", die im Rahmen von Veranstaltungen mit musikalischen Programmen bespielt werden. Der sozio-kulturelle Habitus, das gemeinsame Tanzen und Feiern sowie die Kommunikation in diesen geschlossenen Räumen würden bei Einhaltung der behördlichen Verordnungen fehlen und den Veranstaltungen damit den Reiz nehmen. Auch Konzerte leben von Nähe und dem gemeinsamen Erleben des Bühnengeschehens. „Außerdem ist das Spielen eines Konzertes oder einer Show mit Abstandsregeln für Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne kaum durchführbar."
Nein, so funktioniert das alles nicht, denn es passt nicht zusammen. Rock `n`Roll vor leeren Reihen unter sterilen Bedingungen ohne Körperkontakt ist für das Colos-Saal-Team auf Dauer nicht vorstellbar. Es wäre das Gegenteil dessen, weshalb wir alle unsere beruflichen Leidenschaften im Musikzirkus gefunden haben. Ein packendes, ergreifendes und emotionales Konzerterlebnis ist für die meisten unserer Programminhalte essentiell und unabdingbar für die Art Kultur, die wir mit dem Colos-Saal repräsentieren.
Es funktioniert so nicht und es darf andererseits aber auch nicht passieren, dass die Konzertereignisse zu gefährlichen Infektionsherden werden. Ein Widerspruch, der für uns derzeit nicht lösbar ist. Wir würden nichts lieber, als sofort wieder weiter arbeiten. Aber sowohl die Eigenverantwortung als auch die politischen Reglementierungen verbieten es uns. Es bleibt vorerst nur der Wartezustand.
Wir sorgen mit dieser Entscheidung, bis Ende August zu pausieren, für Klarheit bei unseren Besuchern und für eine Pause angesichts des chaotischen Zustands, in dem sich die komplette Konzertbranche derzeit befindet. Hinter den Kulissen geht es rund. Bereits Anfang März war die Unsicherheit aller Beteiligten sehr groß, als die einzelnen Bundesländer urplötzlich größere Veranstaltungen unterbanden, kleinere aber noch zuließen. Das war für die bekannteren Acts bereits der Todesstoß für ihre Tourneen, sofern sie sowohl in größeren Hallen als auch in Clubs spielten, denn ihre Konzertreisen, monatelang vorgeplant und mit etlichen Vorschüssen an Arbeit und Geld vorbereitet, gingen auf einmal nicht mehr auf.
Gleichzeitig machten etliche Länder nach und nach ihre Grenzen dicht und die international tourenden Acts kamen überhaupt nicht mehr an ihren Spielorten an. Bayern veröffentlichte am 16. März die Allgemeinverfügung, die sämtliche Veranstaltungen verhinderte. In ganz Deutschland wurde versucht, noch anstehende Tourneen und Konzerte zu retten, in dem man sie aus dem März und April in den Sommer legte und sämtliche Konzerttermine verschob. Die Spielstätten hatten urplötzlich keine Einnahmen mehr bei weiter laufenden Kosten, mussten schließen und hatten trotzdem massiv viel Arbeit mit der Terminumplanung und den entsprechenden Informationen an Kartenkäufer und Medien.
Die großen Ticketsysteme kamen spätestens mit der Absage aller Festivals überhaupt nicht mehr nach und setzen möglicherweise mangels Liquidität auf die Gutscheinlösung. Künstler, Techniker, Produktionsfirmen, Bühnenbauer, Agenturen, Konzertveranstalter haben keinerlei Einnahmen mehr, dafür umso mehr Rückzahlungspflichten wegen der Ausfälle. Erste Insolvenzen gab es schon, weitere werden folgen.
Gab es im März und April noch die Hoffnung der Branche, wenigstens im Sommer irgendwie weiter machen zu können, platzt diese Illusion von Woche zu Woche erneut in Endlosschleife und mittlerweile werden Veranstaltungen bereits zum zweiten und dritten Mal verschoben. Wer noch Hoffnung hat, verschiebt vom Sommer auf Herbst und Winter 2020. Viele Teilnehmer trauen diesem Jahr aber gar nicht mehr und suchen Ihr Glück in der Flucht ins kommende Jahr. Ein Blindflug ohne Orientierung der gesamten Konzertbranche nach dem Prinzip Glaube und Hoffnung.
Nun ist das Konzertgewerbe ein Zweig, der eigentlich von akribischer Vorplanung lebt. Monate, manchmal Jahre im Voraus werden Spielstätten gebucht, wird investiert, wird Werbung geschaltet, wird Personal angeheuert, wird Geld ausgegeben, wird Erwartung geschürt, werden Karten verkauft. Aber es gibt nun mal seit 10 Wochen keine funktionierende Planung mehr, weil alle in einem Zustand der Rechtsunsicherheit arbeiten müssen. Außerdem sind die Fans ja nicht doof. Im ganzen Land wird berichtet, dass es fast gar keine Ticketverkäufe mehr gibt. Die Millionen potentieller Besucher der Events sind genau so verunsichert, einerseits wegen der Frage, ob man in nächster Zukunft überhaupt ohne Gefahr für die Gesundheit Veranstaltungen besuchen kann, andererseits darüber, ob angekündigte Ereignisse der nächsten Monate denn überhaupt stattfinden werden oder ob der jeweilige Veranstalter seine angekündigten Events überhaupt noch finanzieren und realisieren kann.
Eine Branche mit zigtausenden Beschäftigten wird realistisch gesehen mindestens ein halbes Jahr aussetzen müssen, bundesweite Tourneen wird es vorerst nicht geben, internationale sind aufgrund der unterschiedlichen Reisebedingungen in den einzelnen Staaten nicht organisierbar. Viele Akteure der Szene befürchten sogar, dass es noch wesentlich länger dauern wird. Manche bangen, in 2020 gar keine Konzerte mehr zu erleben können. Alle wissen, dass der Wiedereinstieg ins Veranstaltungsgeschehen in weiter Ferne liegt und sehr mühsam werden wird. Alle wissen, dass ein großer Teil der Branche das nicht überleben wird. Alle wissen, dass es hinterher viele Spielstätten nicht mehr geben wird. Hat es solch einen Blackout, eine solch lange Zwangspause in einer anderen Branche schon mal gegeben?
Der Colos-Saal zieht nun die Reißleine und richtet sich auf einen langen Break ein. In dieser Gemengelage ist seriöse Planung nicht mehr leistbar. Wir können nicht irgendwann im Sommer einfach öffnen, denn unser Programm ist wie oben beschrieben zusammengeschmolzen wie Eis in der Sonne und das potentielle Publikum ist stark verunsichert. Wir brauchen Planungsvorlauf zur Wiedereröffnung, ein klares Datum, werden es aber so schnell nicht kriegen.
In der Coronakrise haben viele Menschen täglich dazu gelernt und mittlerweile haben sie auch gelernt, dass bislang Undenkbares ganz schnell passieren kann – das Herunterfahren des kompletten öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Bildungseinrichtungen, das Vorhandensein bislang ungeahnter Milliardenreserven des Staates, das Tragen von Gesichtsmasken als Normalzustand, Verschwörungstheorien als alternative Fakten, um ein paar Beispiele zu nennen.
Vielleicht lernen wir als Gesellschaft im kommenden Sommer weiterhin so schnell dazu und finden einen Weg, besser nicht in eine neue Normalität, sondern zurück in ein Leben in Gemeinschaft - ohne soziale Distanz als erklärtes Allheilmittel. Nur dann werden Rock und Pop auch wieder auf die Bühnen zurückkehren. Der Colos-Saal hat vor, seinen Stillstand ab September zu beenden und wieder Programm anzubieten. Ob es auch durchgeführt werden kann, können wir derzeit nicht garantieren.
Claus Berninger für das Colos-Saal-Team
PS: Online bleiben wir natürlich weiterhin am Ball und melden uns gelegentlich zu Wort – außerdem bereiten wir einige Konzertstreams vor.
PPS: Aufmerksame Leserinnen und Leser finden tatsächlich aktuell noch zwei nichtabgesagte Veranstaltungen in unserem Augustprogramm auf colos-saal.de. Diese Termine werden wir aber auch noch verschieben.“
„So geht`s nicht weiter! Colos-Saal pausiert bis Ende August!
Nach 70 Tagen Lockdown, vom Virus und der Politik erzwungenen, hat der Colos-Saal nun die Nase voll und entscheidet selbst: Der Club bleibt bis zum 31.8.2020 definitiv geschlossen. Alle geplanten Konzerte für Frühjahr und Sommer sind verschoben oder komplett abgesagt. 56 Veranstaltungen sind bislang ausgefallen. Etwa 50 weitere waren im Sommer bis Ende August noch geplant. Wir haben aber nach wie vor keine Rechtssicherheit bezüglich der Frage, wann wir denn die Arbeit wieder aufnehmen können und werden sie auch in absehbarer Zeit nicht erhalten. Daher steigen wir vorerst aus, machen eine Pause und warten die weitere Entwicklung ab.
Aber gestattet uns einen (langen) Kommentar zu dieser Situation:
Es macht einfach keinen Sinn mehr, alle 14 Tage auf die nächste Pressekonferenz in Berlin oder München zu warten, in der unerfüllten Hoffnung auf eine maßgebliche Ansage, wie es denn in der Konzertbranche weiter gehen soll, denn am Tag danach konnten wir jedes Mal wieder die nächsten zwei Wochen des Programms absagen. Es gibt für die Clubs keinen wirklichen Plan der Politik, die weiterhin nur auf Sicht fährt und sich über Lockerungen ziemlich uneinig ist.
Wie simpel wäre das Leben, wenn man ein aluhuttragender Coronaleugner wäre? Man könnte heftig auf „die da oben“ eindreschen, scharf gegen alle Einschränkungen des öffentlichen Lebens protestieren, gegen das Herunterfahren der Wirtschaft auf die Straße gehen und richtig Dampf ablassen, dabei jede Menge Schuldige anklagen. Aber so einfach ist das ja alles nicht. Das Virus ist nicht verschwunden, sondern bleibt gefährlich. Kein Wunder, dass Kanzleramt und die Ministerpräsidenten herumeiern und –irren. Keine/r will die Verantwortung für ein weiteres Ischgl tragen.
Einzelne Bundesländer signalisieren sogenannte Lockerungen für die Kultur. In Hessen können seit dem 9. Mai Theater, Opern- und Konzerthäuser wieder öffnen, ab 30. Mai auch die Kinos. In Mecklenburg-Vorpommern sind seit 11. Mai Galerien, Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten wieder zugänglich. In Rheinland-Pfalz dürfen ab Ende Juni Veranstaltungen mit bis zu 150 Personen stattfinden - selbstverständlich alles unter dem Vorbehalt von Hygienemaßnahmen, Erfassung der Teilnehmer und Einhaltung der Abstandsregeln. Der thüringische Ministerpräsident will sogar ab 6. Juni sämtliche Coronabeschränkungen aufheben. Bayern blockt dafür komplett, öffnet vorerst nur Biergärten und Gaststätten. Welch ein heilloses Durcheinander!
In der Welt der geförderten Kultur, in den Museen, Theatern und Opernhäusern wird tatsächlich ernsthaft darüber nachgedacht, den Betrieb unter Beachtung aller Einschränkungen wieder aufzunehmen und dabei die meisten Plätze freizulassen, um die Abstandsregeln hinzukriegen. In der privatwirtschaftlich organisierten Kulturwelt aber, zu der der Colos-Saal und hunderte andere Live-Music-Clubs, aber auch etliche Kabarett- und Kleinkunstbühnen gehören, wäre das finanzieller Selbstmord, ganz abgesehen von der Frage, wovon die zigtausend Künstler und Veranstaltungstechniker überhaupt noch leben könnten, die auf die Spielstätten als temporäre Arbeitsplätze angewiesen sind, wenn es aus Live-Veranstaltungen nichts mehr zu verteilen gäbe. Immerhin ist gerade den Musikern der Tonträgermarkt durch Streaming Dienste bereits vor Jahren zusammengebrochen, was nur durch Tourneen und mehr Konzerte kompensierbar war.
Aber viel wichtiger noch ist die Frage: Geht das überhaupt? Rock und Pop unter Hygienemaßnahmen, mit Mundschutz und Abstandsregeln? Wer kann sich diesen Cultural Clash denn ernsthaft vorstellen? Diese beiden Genres verbinden die Menschen und führen zu emotionalen Gemeinschaftserlebnissen. Wir kommen zusammen, um Musik sinnlich zu erleben, wir bewegen uns, tanzen, rocken ab. Wir feiern die Musik und die Künstler gemeinsam, wir reagieren mit unseren Körpern auf Lautstärke und Dynamik, im besten Fall werden wir im Publikum für ein paar Stunden zu einer einzigen Woge der Gemeinschaft. Wir treffen uns mit Freunden und Gleichgesinnten auf den Konzerten, gehen gemeinsam aus, wollen Menschen kennenlernen. Wir bringen Menschen zusammen und gerade die Live-Clubs (aber auch die Diskotheken und Bars) existieren überwiegend genau zum gegenteiligen Zweck, nämlich eigentlich um die derzeit propagierte Social Distance zu überwinden.
Körperliche Nähe von Menschen und durchfeierte Nächte sind ja nicht nur Begleiterscheinung, sondern eigentlich Quintessenz des popkulturellen Nachtlebens. In einem gemeinsamen offenen Brief formulieren die Betreiber von über 30 Musikclubs in Deutschland es folgendermaßen: Clubs seien "kollaborativ gestaltete Räume konkreter Körperlichkeit", die im Rahmen von Veranstaltungen mit musikalischen Programmen bespielt werden. Der sozio-kulturelle Habitus, das gemeinsame Tanzen und Feiern sowie die Kommunikation in diesen geschlossenen Räumen würden bei Einhaltung der behördlichen Verordnungen fehlen und den Veranstaltungen damit den Reiz nehmen. Auch Konzerte leben von Nähe und dem gemeinsamen Erleben des Bühnengeschehens. „Außerdem ist das Spielen eines Konzertes oder einer Show mit Abstandsregeln für Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne kaum durchführbar."
Nein, so funktioniert das alles nicht, denn es passt nicht zusammen. Rock `n`Roll vor leeren Reihen unter sterilen Bedingungen ohne Körperkontakt ist für das Colos-Saal-Team auf Dauer nicht vorstellbar. Es wäre das Gegenteil dessen, weshalb wir alle unsere beruflichen Leidenschaften im Musikzirkus gefunden haben. Ein packendes, ergreifendes und emotionales Konzerterlebnis ist für die meisten unserer Programminhalte essentiell und unabdingbar für die Art Kultur, die wir mit dem Colos-Saal repräsentieren.
Es funktioniert so nicht und es darf andererseits aber auch nicht passieren, dass die Konzertereignisse zu gefährlichen Infektionsherden werden. Ein Widerspruch, der für uns derzeit nicht lösbar ist. Wir würden nichts lieber, als sofort wieder weiter arbeiten. Aber sowohl die Eigenverantwortung als auch die politischen Reglementierungen verbieten es uns. Es bleibt vorerst nur der Wartezustand.
Wir sorgen mit dieser Entscheidung, bis Ende August zu pausieren, für Klarheit bei unseren Besuchern und für eine Pause angesichts des chaotischen Zustands, in dem sich die komplette Konzertbranche derzeit befindet. Hinter den Kulissen geht es rund. Bereits Anfang März war die Unsicherheit aller Beteiligten sehr groß, als die einzelnen Bundesländer urplötzlich größere Veranstaltungen unterbanden, kleinere aber noch zuließen. Das war für die bekannteren Acts bereits der Todesstoß für ihre Tourneen, sofern sie sowohl in größeren Hallen als auch in Clubs spielten, denn ihre Konzertreisen, monatelang vorgeplant und mit etlichen Vorschüssen an Arbeit und Geld vorbereitet, gingen auf einmal nicht mehr auf.
Gleichzeitig machten etliche Länder nach und nach ihre Grenzen dicht und die international tourenden Acts kamen überhaupt nicht mehr an ihren Spielorten an. Bayern veröffentlichte am 16. März die Allgemeinverfügung, die sämtliche Veranstaltungen verhinderte. In ganz Deutschland wurde versucht, noch anstehende Tourneen und Konzerte zu retten, in dem man sie aus dem März und April in den Sommer legte und sämtliche Konzerttermine verschob. Die Spielstätten hatten urplötzlich keine Einnahmen mehr bei weiter laufenden Kosten, mussten schließen und hatten trotzdem massiv viel Arbeit mit der Terminumplanung und den entsprechenden Informationen an Kartenkäufer und Medien.
Die großen Ticketsysteme kamen spätestens mit der Absage aller Festivals überhaupt nicht mehr nach und setzen möglicherweise mangels Liquidität auf die Gutscheinlösung. Künstler, Techniker, Produktionsfirmen, Bühnenbauer, Agenturen, Konzertveranstalter haben keinerlei Einnahmen mehr, dafür umso mehr Rückzahlungspflichten wegen der Ausfälle. Erste Insolvenzen gab es schon, weitere werden folgen.
Gab es im März und April noch die Hoffnung der Branche, wenigstens im Sommer irgendwie weiter machen zu können, platzt diese Illusion von Woche zu Woche erneut in Endlosschleife und mittlerweile werden Veranstaltungen bereits zum zweiten und dritten Mal verschoben. Wer noch Hoffnung hat, verschiebt vom Sommer auf Herbst und Winter 2020. Viele Teilnehmer trauen diesem Jahr aber gar nicht mehr und suchen Ihr Glück in der Flucht ins kommende Jahr. Ein Blindflug ohne Orientierung der gesamten Konzertbranche nach dem Prinzip Glaube und Hoffnung.
Nun ist das Konzertgewerbe ein Zweig, der eigentlich von akribischer Vorplanung lebt. Monate, manchmal Jahre im Voraus werden Spielstätten gebucht, wird investiert, wird Werbung geschaltet, wird Personal angeheuert, wird Geld ausgegeben, wird Erwartung geschürt, werden Karten verkauft. Aber es gibt nun mal seit 10 Wochen keine funktionierende Planung mehr, weil alle in einem Zustand der Rechtsunsicherheit arbeiten müssen. Außerdem sind die Fans ja nicht doof. Im ganzen Land wird berichtet, dass es fast gar keine Ticketverkäufe mehr gibt. Die Millionen potentieller Besucher der Events sind genau so verunsichert, einerseits wegen der Frage, ob man in nächster Zukunft überhaupt ohne Gefahr für die Gesundheit Veranstaltungen besuchen kann, andererseits darüber, ob angekündigte Ereignisse der nächsten Monate denn überhaupt stattfinden werden oder ob der jeweilige Veranstalter seine angekündigten Events überhaupt noch finanzieren und realisieren kann.
Eine Branche mit zigtausenden Beschäftigten wird realistisch gesehen mindestens ein halbes Jahr aussetzen müssen, bundesweite Tourneen wird es vorerst nicht geben, internationale sind aufgrund der unterschiedlichen Reisebedingungen in den einzelnen Staaten nicht organisierbar. Viele Akteure der Szene befürchten sogar, dass es noch wesentlich länger dauern wird. Manche bangen, in 2020 gar keine Konzerte mehr zu erleben können. Alle wissen, dass der Wiedereinstieg ins Veranstaltungsgeschehen in weiter Ferne liegt und sehr mühsam werden wird. Alle wissen, dass ein großer Teil der Branche das nicht überleben wird. Alle wissen, dass es hinterher viele Spielstätten nicht mehr geben wird. Hat es solch einen Blackout, eine solch lange Zwangspause in einer anderen Branche schon mal gegeben?
Der Colos-Saal zieht nun die Reißleine und richtet sich auf einen langen Break ein. In dieser Gemengelage ist seriöse Planung nicht mehr leistbar. Wir können nicht irgendwann im Sommer einfach öffnen, denn unser Programm ist wie oben beschrieben zusammengeschmolzen wie Eis in der Sonne und das potentielle Publikum ist stark verunsichert. Wir brauchen Planungsvorlauf zur Wiedereröffnung, ein klares Datum, werden es aber so schnell nicht kriegen.
In der Coronakrise haben viele Menschen täglich dazu gelernt und mittlerweile haben sie auch gelernt, dass bislang Undenkbares ganz schnell passieren kann – das Herunterfahren des kompletten öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Bildungseinrichtungen, das Vorhandensein bislang ungeahnter Milliardenreserven des Staates, das Tragen von Gesichtsmasken als Normalzustand, Verschwörungstheorien als alternative Fakten, um ein paar Beispiele zu nennen.
Vielleicht lernen wir als Gesellschaft im kommenden Sommer weiterhin so schnell dazu und finden einen Weg, besser nicht in eine neue Normalität, sondern zurück in ein Leben in Gemeinschaft - ohne soziale Distanz als erklärtes Allheilmittel. Nur dann werden Rock und Pop auch wieder auf die Bühnen zurückkehren. Der Colos-Saal hat vor, seinen Stillstand ab September zu beenden und wieder Programm anzubieten. Ob es auch durchgeführt werden kann, können wir derzeit nicht garantieren.
Claus Berninger für das Colos-Saal-Team
PS: Online bleiben wir natürlich weiterhin am Ball und melden uns gelegentlich zu Wort – außerdem bereiten wir einige Konzertstreams vor.
PPS: Aufmerksame Leserinnen und Leser finden tatsächlich aktuell noch zwei nichtabgesagte Veranstaltungen in unserem Augustprogramm auf colos-saal.de. Diese Termine werden wir aber auch noch verschieben.“